Helene Reisinger-Peusens Schöne Barbarazweigeln, gnä Frau, lauter Kirschblüten! An jedem drei Numera für d’Lotterie. Nehmans a mit, das Stückl nur fufzig Groschen!“ Ich war eben vom Kohlmarkt in den Michaelerplatz eingeoben und blieb vor ihr stehen. Das freundliche, alte Mutterl hatte auf einer Kiste Zweige zum Verkauf ausgelegt. Ein bläulicher Rauchfaden zog darüber hin, von glosenden Franziskerln, mit herbem Weihrauchgeruch. Auch diese wurden den Vorbeigehenden angeboten. Ich blieb stehen und besah die kurzen, braunen, winterharten Zweige, die jeder Einzelne viele kleine Knospen hatte. Ich suchte mir sechs Stück aus, öffnete die Geldbörse, aus der ich das nötige Kleingeld in die runzelige Hand des alten Weibleins zählte und ging mit guten Ratschlägen, das Aufblühen der Knospen betreffend, reichlich versorgt, nach Hause. Unterwegs fiel mir das Erlebnis einer Freundin, die ich Grete nennen will, ein. Auch sie hatte einmal, wie ich, Barbarazweigeln gekauft und nach Hause getragen. Als sie in der Pension, wo sie wohnte, das Zimmer betrat, war das Stubenmädchen eben dabei, Staub zu wischen. Während diese den Schreibtisch in Ordnung brachte, gab Grete die Barbarazweige in einen hübschen Biedermeier-Glasstutzen und stellt sie auf den Kachelofen hinauf. „Ein fescher Mann ist er, der Herr Gemahl!“, sagte Frau Maria, das Stubenmädchen, vom Schreibtisch her, die eben das gerahmte Foto abgestaubt hatte und es nun mit den Worten wieder an den Platz stellte. Grete seufzte: „Ist er oder war er? Wer weiß das? Nun werden auch diese Weihnachten (es war das Jahr 1948) vorbeigehen und ich habe nicht einmal Nachricht. Und ich hatte doch so gehofft, dass er heuer endlich hier sein würde.“ Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn auf einen Kleiderbügel. Dabei kehrte sie Maria den Rücken zu, damit diese nicht ihre tränenfeuchten Augen sah. Am Abend, als Grete im Bett lag, fiel ihr Blick auf den Kachelofen und die Vase mit den Zweigen. Man durfte sich etwas wünschen und der Wunsch sollte in Erfüllung gehen, wenn die Knospen aufblühten. Sie hatte nur einen einzigen heißen Wunsch: Franz sollte endlich zurückkommen! Sie flüsterte diesen Satz ein paar Mal vor sich hin, als ob er da mehr Wirkung haben könne, die Hände dabei ineinander gefaltet wie zum Gebet. Flehend, ringend, fordernd flüsterte sie ihn, den Wunsch und während sie in andrängendem Schmerz die Augen schloss, sah sie plötzlich wie eine Vision zu leuchtendem Weiß erblühten Zweige vor sich. Jeden Abend, wenn sie ihr Zimmer betrat, war ihr erster Weg zur kleinen Vase. Nach ein paar Tagen begannen sich einige Knospen zu öffnen. Bald schauten bei den ersten schon Blattspitzen hervor und sie waren schon voll erblüht, als endlich auch die letzten sich entschlossen, die von ihnen umhüllten Blüten freizugeben. Immer größer, immer duftiger wurde der Strauß, bis zuletzt das Braun der Rinde kaum mehr zu sehen war in dem Wunder von Blüte an Blüte. Am Heiligen Abend war Grete schon am Nachmittag zu Hause. Während sie auf das Kochen des Teewassers wartete, hörte sie aus dem Nebenzimmer erregtes Sprechen und furchtbares Weinen. Sie wurde unruhig. Sie war mit ihrer Nachbarin und deren Tochter beinahe befreundet. Auch diese hatten ein ganz schönes Päckchen zu tragen. Welches Unglück mochte sie heute wieder getroffen haben? Sollte sie hinübergehen? Sie war mit ihren Überlegungen noch nicht am Ende, als es schon an ihrer Tür klopfte. Kaum hatte sie dieselbe geöffnet, stürzte ihre Nachbarin, Frau Milek, förmlich herein und lag im nächsten Augenblick an Gretes Brust, von hemmungslosem Weinen geschüttelt. Aus den kaum verständlichen Reden erfuhr sie mit einiger Geduld, dass die Tochter Ilse einen Autounfall gehabt habe, schwer verletzt auf der Unfallstation eingeliefert worden war und das man das Schlimmste befürchte. „Kommen Sie bitte mit mir“, ersuchte Frau Milek, „Ihre Anwesenheit wird mich stärken, bei diesem schweren Gang.“ Als Grete in Mantel und Hut ihr Zimmer verlassen wollte, fiel ihr Blick auf den voll erblühten Strauß. Einer plötzlichen Eingebung willig nachgebend, holte sie ihn aus der Vase und schlug ihn in doppeltes Seidenpapier ein. Den aufsteigenden, kleinlichen Gedanken: „Du verschenkst gerade dein eigenes Glück!“ wies sie energisch zurück und eilte, den Strauß behutsam an sich pressend, auf die Straße, wo Frau Milek schon im Taxi auf sie wartete. Haben Wünsche, wenn sie wirklich kraftvoll genug aus unseren Herzen aufsteigen, solche Kräfte, dass sie den Lauf der Dinge ändern können? So ungefähr waren Gretes Gedanken am nächsten Vormittag, als sie sich todmüde ihrer Kleider entledigte und unter die Bettdecke kroch, um den versäumten Nachtschlaf nachzuholen. Kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, begannen sich ihre Gedanken auch schon karussellartig zu drehen, einzelne Bilder tauchten noch auf, wie Strandgut im strudelnden Wasser. Sie sah noch einmal das aufleuchtende Gesicht der Sterbenden, als sie ihr die Kirschblütenzweige auf die Decke legte. Noch einmal hörte sie ihre Frage: „Ist-schon-Frühling?“ Sie sah die vor Wunder erstaunt-ratlosen Gesichter der Ärzte, erlebte noch einmal das fassungslose, fast schon an Schmerz grenzende Glück der Mutter, als der Primarius am frühen Vormittag sagte: „Es ist unfassbar, aber es sieht so aus, als würden wir sie am Leben erhalten.“ Grete seufzte glücklich auf und versank vollends in Schlaf und Traum. Sie schlief so tief, wie sonst nur ganz junge Menschen schlafen können. Sie hörte die Türklingel nicht, nicht die Stimme des öffnenden Stubenmädchens, sie bemerkte nicht, dass die Klinke ihrer Türe sachte niedergedrückt wurde und, da sie vergessen hatte sie abzuschließen, unter dem Druck nachgab. Durch die Türspalte schob sich zuerst Marias Kopf, die sich gleich wieder zurückzog und einer Männergestalt Platz machte. Der Mann blieb an der Türe stehen, die hinter ihm geschlossen wurde. Mit zärtlichem Blick betrachtete er die Schlafende, dann zog er behutsam die staubigen Schuhe von seinen Füßen und legte zuletzt noch seine Kappe und den Uniformrock über einen Sessel. Ebenso behutsam ging er durchs Zimmer, ließ sich an dem Rand des Bettes nieder und sah liebevoll in Gretes Gesicht. Dann neigte sich der Mann und küsste sie behutsam auf Wange und Mund. Geduldig wartete er dann, bis sie nach einer Weile erwachte und die Augen aufschlug. Er hatte warten gelernt. So war an dem Aberglauben, dass man erblühte Barbarazweige und vierblättrigen Klee, den man selbst gepflückt hat, nicht weiterschenken soll, doch nichts daran. Ich dachte es lächelnd, während ich die Barbarazweige in eine schöne Vase ordnete, in Ofennähe stellte und hoffte, dass sie aufblühen würden. Grete jedenfalls hatte ihr Glück nicht „verschenkt“, es blüht noch heute. aus: Weihnachtsgeschichten und Gedichte aus Österreich, Ennsthaler Verlag, 2012, S. 37 ff]]>